Warum der 12. 12. 2012 für Andrea Tschofen-Netzer eine besondere Bedeutung hat.
Tschagguns. Andrea Tschofen-Netzer nimmt es mit jedem auf. Egal, ob es sich um Behörden, Ärzte oder Politiker handelt. Zurzeit kämpft die 47-jährige Montafonerin an zwei Fronten. An der einen Front setzt sie sich unermüdlich dafür ein, dass krebskranke Kinder hier im Land onkologisch versorgt werden, an der anderen macht sie sich für Veränderung in ihrem Dorf stark.
Sie lädt in ihr Großelternhaus in Tschagguns, in dem sie seit 22 Jahren mit Ehemann und Sohn wohnt. Drinnen ist es kühler, das ist angenehm an diesem heißen Sommertag. Man sitzt an einem großen Tisch, hält – eh klar – Corona-Abstand. Das Husky-Bild an der Wand hat die Hausherrin gemalt: „Malen ist mein Ausgleich. Dabei vergesse ich alles andere“, sagt sie.
Herzensprojekt
Unverzüglich beginnt sie über ihr Herzensprojekt zu reden: den Kampf um eine Kinderonkologie in Vorarlberg. Stundenlang könnte sie sich zu diesem Thema äußern und sich über ignorante Entscheidungsträger empören. Als Mutter eines Teenagers, der als Kind an Blutkrebs litt, hat sie entsprechende Erfahrung. Doch schon davor hat sie ein durchaus turbulentes Leben geführt.
Aufgewachsen ist sie in St. Gallenkirch, mit zwei Schwestern und einem Bruder. Nach Volks- und Hauptschule stand für die damals 14-Jährige fest, einen Handwerksberuf zu erlernen: „Ich wollte Holz- und Steinbildhauerin werden.“ Die vier Ausbildungsjahre in der Holz- und Bildhauerschule in Tirol hat sie als spannende Epoche in Erinnerung. Im erlernten Beruf hat sie indes nie gearbeitet, sondern ging nach der Gesellenprüfung drei Monate als Au Pair nach England. Danach zog es sie in die Tourismus-Branche, sie arbeitete in Hotels als Servierkraft. In den Wintersaisonen jobbte sie zudem als Skilehrerin.
1993, sie war Anfang 20, entnahm sie einem Zeitungsinserat, dass die deutsche Fluggesellschaft Lufthansa Flugbegleiterinnen suchte: „Ich wusste, das will ich machen.“ Nach bestandener Aufnahmeprüfung sorgte sie knapp zwei Jahre lang über den Wolken für das Wohl der Fluggäste. Dann begegnete sie daheim im Montafon ihrer großen Liebe. „Ich fragte mich, wie es nun weitergehen soll. Will ich das coole Leben aus dem Koffer, jeden Tag in einer anderen Stadt, weiterführen? Oder entscheide ich mich für die Liebe?“ Sie entschied sich für die Liebe – geheiratet wurde jedoch erst zehn Jahre später.
Nach ihrer Rückkehr fand sie eine Stelle bei einem praktischen Arzt. 15 Jahre lang war sie seine Assistentin. Zwischenzeitlich, im Jänner 2004, kam Sohn Julian zur Welt. Im Alter von acht Jahren erkrankte das Kind schwer. Es begann am ersten Ferientag im Sommer 2012: „Julian hatte plötzlich Fieber und die Lymphknoten schwollen an.“ Nach unzähligen Untersuchungen, zuerst beim Hausarzt, dann im Krankenhaus Feldkirch und schließlich in der Uniklinik Innsbruck, stand die Diagnose fest: Akute Lymphatische Leukämie. „Sofort wurde mit der Chemotherapie begonnen“, erinnert sich die Mutter. Nach zwei Wochen in Innsbruck wurde Julian im städtischen Krankenhaus Dornbirn weiterbehandelt. „Das war ein Segen“, sagt sie, „denn dadurch war es uns möglich, ein Familienleben zu führen.“
Am 12.12.2012 kam die wunderbare Nachricht: Julian ist gesund. Und das ist der HTL-Schüler noch immer. Seit 2018 gibt es die kinderonkologische Versorgung in Dornbirn nicht mehr. Die jungen Krebspatienten müssen zu jeder Untersuchung und jeder Behandlung nach Innsbruck reisen. „Da haben wir Eltern uns zusammengeschlossen und die Initiative #ProKinderOnkoDornbirn gegründet“, erklärt Andrea Tschofen-Netzer. Sie ist die Sprecherin der Gruppe, die alles daransetzt, dass die schwerkranken Kinder wieder hier im Land behandelt werden. „Alle politisch Verantwortlichen müssen handeln – jetzt,“ fordert sie. „Jeder von ihnen kann im nächsten Augenblick auf der anderen Seite stehen.“
Bürgermeisterkandidatin
Um sich noch effektiver für ihr Herzensprojekt einsetzen zu können, aber auch weil ihr einiges nicht passt, was in Tschagguns passiert, vielmehr nicht passiert, kandidiert sie bei der kommenden Gemeindewahl fürs Bürgermeisteramt. Dafür hat sie die parteifreie Liste „Gemeinsam für Tschagguns“ gegründet, auf der neun Frauen und sechs Männer stehen. Große Sprünge werde sie nicht machen können, weil sie den Wahlkampf aus der eigenen Tasche finanziert. Dazu kommt, dass sie sich vorigen Herbst von der IT-Firma, bei der sie arbeitet, eine Auszeit genommen hat. Dennoch ist Andrea Tschofen-Netzer zuversichtlich: „Manchmal muss man den Mut haben, den sicheren Pfad zu verlassen“.
Zitat: „Manchmal muss man den Mut haben, den sicheren Pfad zu verlassen.“ Andrea Tschofen-Netzer Holz- und Steinbildhauerin